CODA Kritik: Wenn Gesten stärker sind als Worte

Am vergangenen Sonntag hat Coda bei den Oscars recht überraschend den Preis für den Besten Film mit nach Hause genommen. Obwohl der Film bei vielen unter dem Radar schwebte, ist er doch ein ehrliches und süßes Werk über Familie, Liebe und das Erwachsenwerden, hat aber auch einige Probleme.

Lesezeit: ca. 6 Minuten

Um was geht’s?

Coda ist eigentlich eine Abkürzung für „Child of deaf parents“, also „Kind von tauben Eltern“. Und genau das ist auch die Prämisse des Films: Ruby Rossi (Emilia Jones) ist die Tochter von zwei tauben Eltern und einem tauben Bruder. Während die Familie ihr tägliches Brot mit dem Fischfang verdient, übersetzt Ruby die Zeichensprache ihrer Familie für all diejenigen, die sie nicht verstehen.

Und während sich ihre Eltern Frank (Troy Kotsur) und Jackie (Marlee Matlin) zunehmend die Frage stellen, wie sie mit immer weniger Geld für ihren gefangenen Fisch über die Runden kommen soll, hat Ruby in der Schule und im Privatleben ganz eigene Probleme, die sich aber nie vollständig von ihrer tauben Familie entkoppeln lassen. Über fast zwei Stunden erzählt Coda eine ehrliche, rührende Geschichte über das Leben mit tauben Eltern, all die Probleme des Erwachsenwerdens unter solch besonderen Umständen und die erste Liebe, die ganz zufällig (oder doch nicht) durch den Musiklehrer der Schule zustande kommt.


Filmkritik zu Coda

Ruby übersetzt Zeichensprache für ihre Eltern, seit sie denken kann. Wenn jemand ihre Eltern oder ihren Bruder nicht versteht, dann werden die Zeichen, die die drei Taub-Stummen von sich geben, in Worte übersetzt. Genauso ist es umgekehrt: Wenn ihre Eltern die Worte eines Anderen nicht verstehen, übersetzt Ruby sie in Zeichensprache. Das hat bis jetzt auch immer gut geklappt. Trotzdem ist das Zusammenleben mit Taub-Stummen für die Teenagerin nicht immer einfach:

Als sie eines Abends lernen will, stören sie ihre Familienmitglieder durch ihre Lautstärke, von der diese natürlich nichts mitbekommen. Als sich ihr Vater Frank dann noch zu ihr setzt und einen lautstarken Furz abgibt, reicht es Ruby. Doch ihr Vater weiß das Mädchen zu beruhigen und fragt: „Weißt du, warum Gott Fürze hat stinken lassen? Damit Taube auch was davon haben“. Ein so kleiner, aber enorm wichtiger Satz, der mir den Rest des Films im Kopf geblieben ist.

Denn Coda weiß mit seiner Thematik über das Taub-Sein sehr viel anzufangen: Immer wieder stellt man sich als Zuschauer die Frage, wie diese oder jene Situation jetzt wohl jemand erleben oder fühlen würde, der nichts hören oder der sich nicht durch Sprache im klassischen Sinne artikulieren kann. Und immer wieder greift der Film von Sian Heder diese Fragen direkt auf, indem er zumindest einen Einblick in die Welt der Tauben gibt: Etwa, wenn Ruby auf einer großen Bühne steht und singt. Ihre Familie im Publikum hört nichts. Und auch uns als Zuschauer wird kurz der Ton abgedreht und wir beobachten Frank, wie er sich im Saal umsieht und danach schaut, wie die Leute auf das Singen seiner Tochter reagieren. Wie sie klatschen, welchen Gesichtsausdruck sie haben oder ob sie mit dem Klang der Musik und des Gesungenen mitwippen. Und immer dann, wenn alle anderen klatschen oder sich erheben, weiß die Familie, dass Ruby dort oben auf der Bühne einen fantastischen Job macht. Und dass man als Elternteil stolz auf das Singen seiner Tochter sein kann, auch wenn man es gar nicht hört.

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Feel Good Drama

Coda Ruby Rossi

Und im Verlauf des Films entspinnt sich auch eine kleine Liebesgeschichte zwischen Ruby und ihrem Duett-Partner Miles (Ferdia Walsh-Peelo). Die ist zwar ganz süß, aber bleibt über den gesamten Film leider sehr oberflächlich und unglaubwürdig. Das beginnt schon damit, dass hier wieder einmal sämtliche Hollywood-Klischees bedient werden: Ruby soll eigentlich den unsicheren und schüchternen Underdog spielen, wird aber von einer gut aussehenden Schauspielerin verkörpert. Ebenso Miles, der aussieht wie einer der Vampire aus Twilight und natürlich ganz zufällig vom Musiklehrer für ein Duett mit dem Underdog ausgewählt wird. Eine ebenso langweilige wie vorhersehbare Liebesgeschichte, die es schon tausendmal zu sehen gab.

Coda ist ein Feel-Good-Drama, wenn das kein Widerspruch wäre. Denn eigentlich immer werden Konflikte schon nach kurzer Zeit aufgelöst. Das Duett-Singen mit dem coolen Typ aus der Parallelklasse fühlt sich komisch an? Kein Problem, ihr verliebt euch einfach ineinander und habt dann die perfekte Beziehung. Der Verkäufer eurer frisch gefangenen Fische zahlt euch viel zu wenig und steckt sich viel zu viel in die eigene Tasche? Kein Problem, verkauft den Fisch einfach selbst und gründet ein erfolgreiches Unternehmen. Und so geht es weiter. Ich habe mir im Verlauf des Films irgendwann die Frage gestellt, welche Botschaft dieser Film vermitteln will.

Wird man in unserer Gesellschaft nur akzeptiert, wenn man etwas geleistet hat? Ein Beispiel dazu: Die Familie Rossi, von der drei der vier Mitglieder taub sind, hat es schwer, akzeptiert zu werden. Die Mutter beispielsweise findet in der Gemeinde, in der die Familie lebt, kaum Anschluss. Nur ihre anderen tauben Freunde besuchen sie einmal im Monat. Als sie dann aber einen eigenen Fischverkauf ins Leben rufen und richtig ins Geschäft einsteigen, interessiert sich plötzlich jeder für die Familie. Die Lokalzeitung ist vor Ort, die Taubstummen kommen mit anderen Menschen ins Gespräch, wenn auch über Umwege. Was ist die Lehre daraus? Dass man mit einer Behinderung, wenn man nicht ist wie jeder andere, erst akzeptiert wird, wenn man etwas geleistet hat, das die Gesellschaft der „Normalen“ als gut erachtet?

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Nur eine Sache macht diesen Film so besonders

Coda Filmkritik

Coda ist nicht nur ein Film über ein Mädchen mit taubstummen Eltern. Er ist auch ein Film über das Familienleben. Über das gegenseitige Unterstützen. Über Zusammenhalt und Familienliebe. Über all das, was man für seine Liebsten tut, auch wenn man sie gerade vielleicht hasst. Das alles potraitiert Coda hervorragend. Aber alles davon wird in anderen Filmen auch schon gezeigt.

Bis auf die spannende Thematik rund um eine Teenagerin mit taubstummen Eltern, die nebenbei auf einem Fischkutter arbeitet, ist nichts am Film wirklich neu oder revolutionär. Ich möchte damit keinesfalls sagen, dass der Film Themen wie Erwachsenwerden, die erste Liebe, Probleme mit der Familie und Ähnliches nicht wunderbar inszeniert. Im Gegenteil, dieser Film sticht durch seine Ehrlichkeit und Einzigartigkeit sogar hervor. Aber trotzdem habe ich vieles davon einfach schon gesehen. Sei es in Lady Bird, einem meiner absoluten Lieblingsfilme oder in Eight Grade, der auch wunderbar ehrlich ist. Ich habe hier auf diesem Blog mit Booksmart sogar schon einen sehr ähnlichen Film besprochen.

Führt man sich vor Augen, dass Coda auch kein wirklich neuer Film, sondern ein Remake des französischen Films The Belier Family (2014) ist, dann muss man sich schon fragen, wie dieser zwar liebenswürdige und süße Streifen einen Oscar als Bester Film gewinnen konnte. Nichtsdestotrotz sollte man die fantastischen schauspielerischen Leistungen aller Beteiligten hervorheben. Sei es nun die Hauptdarstellerin Emilia Jones, die nebenbei auch noch eine hervorragende Sängerin ist oder ihr Bruder Leo, gespielt von Daniel Durant. Oder der Vater der beiden, Troy Kotsur, der dafür verdientermaßen einen Oscar als Bester Nebendarsteller gewonnen hat. Die Mutter, gespielt von Marlee Matlin, hätte einen Oscar wohl ebenso verdient wie der wunderbar schrullige, aber liebenswerte Musiklehrer Bernado, verkörpert von Eugenio Derbez.  


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Auch die Kameraarbeit ist gut gelungen und vor allem die zahlreichen Songs, oft selbst von der Hauptdarstellerin Emilia Jones gesungen, beleben den Film richtig. Mit der interessanten Prämisse einer Familie, die zu drei vierteln aus Taubstummen besteht, erschafft die Regisseurin Sian Heder eine ganz eigene Atmosphäre aus Zeichensprache und wie sie sich in unterschiedlichen Situationen auswirkt. Denn wenn man wütend ist, kann man das durch Zeichensprache genauso gut rüberbringen, wie es mit normaler Sprache funktioniert. Das zeigt der Film eindeutig.

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Fazit & Bewertung

Zum Ende hin könnten beim ein oder anderen Zuschauer auch ein paar Tränen kullern, denn Coda weiß, welche Gefühlsregionen er ansprechen muss. Einige der besten Schauspiel-Performances gemischt mit einer ehrlichen, einfühlsamen Geschichte führen dazu. Auch wenn diese Geschichte nicht wirklich neu oder außergewöhnlich ist. Insgesamt hat mir der Film wirklich sehr gut gefallen und ich kann auch nachvollziehen, warum er den Oscar mit nach Hause genommen hat. Es gab zwar zwei, drei Filme dieses Jahr in der Kategorie Bester Film, die den Goldjungen meiner Meinung nach mehr verdient hätten, aber die sonstige Konkurrenz war nicht wirklich groß. Und manchmal muss man vielleicht auch den kleinen Filmen, die sonst unter dem Radar bleiben, eine Chance geben, ganz groß raus zu kommen. Wie es auch der Familie in diesem Film gelingt.

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Lukas Egner

Ich bin der Gründer von filmfreitag und schaue leidenschaftlich gerne Filme und Serien aus jedem Genre. Ich bin 21 Jahre alt, studiere momentan Politik- und Medienwissenschaften und schreibe als freier Autor für verschiedene Film- und Videospielmagazine.

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Anna
Anna
4. April 2022 14:52

Meiner Meinung nach ein ziemlich überbewerteter Film. Ja, er hat seine Stärken. Aber der beste Film des Jahres, zu dem ihn die Oscars bzw die Academy machen? Nein, bei weitem nicht, bei der Konkurrenz gab es dieses Jahr deutlich bessere Filme. Ich mochte hab The Green Knight oder Dune, der bichtmal einen Oscar für die beste Regie gewonnen hat. Enttäuschend. Kann deine Kritik zwar nachvollziehen irgendwie, aber muss dann doch wiedersprechen!

Anna
Anna
Reply to  Lukas Egner
6. April 2022 17:35

Kann deine Kritik ja auch nachvollziehen, finde viele Kritiken auf deinem Blog sehr gut! Du bringst immer neue Prrspektiven in die Filmkritiken, die ich bei manch anderem Kritiker vermisse. Tolle Arbeit, du hast auf jeden Fall eine weitere Leserin!