Kritik zu Leave the World Behind: Der neue Netflix-Film ist wie Sex ohne Höhepunkt!

Auf Netflix ist ein neuer Endzeit-Film mit Star-Besetzung erschienen. In Leave the World Behind fährt eine Familie in ein abgeschiedenes Luxushaus außerhalb einer Großstadt, nur um kurze Zeit später festzustellen, dass die Welt um sie herum scheinbar untergeht. Ob sich der Streifen lohnt, erfahrt ihr in meiner Kritik!

Filmkritik zu Leave the World Behind

In den sozialen Medien sorgt der Streifen aktuell für einen handfesten Rassismus-Skandal, gleichzeitig wird er von vielen Kritikern gefeiert. Und so ist es wohl bezeichnend für die Ausgangslage und spätere Message eines Films, wenn dafür neben dem Ex-US-Präsidenten Barack Obama und seiner Frau, die das Katastrophendrama mitproduziert haben, auch der Sohn ägyptischer Einwanderer zusammen kommen: 

Sam Esmail, der in den von einer weißen Bevölkerungsmehrheit bewohnten Südstaaten der USA aufgewachsen ist, wurde schon in frühester Kindheit mit dem Trugbild einer vermeintlich homogenen Gesellschaft in den Medien konfrontiert. Gerade in Fernsehsendungen wurde dabei immer wieder das Bild einer heilen Welt präsentiert, die es so jedoch nie gab.

Mit dem Endzeit-Thriller Leave the World Behind verarbeitet der Regisseur diese falsche Vermittlung durch die Medien nun und stellt dabei den Kontrastpunkt zwischen der Erfolgs-Sitcom “Friends” mit ihrer vermeintlich perfekten Welt und der untergehenden Wirklichkeit in den Mittelpunkt. Herausgekommen ist eine stellenweise scharfzüngige Gesellschaftssatire, die aber an vielen Stellen an Tiefe vermissen lässt und vor allem einen schweren Fehler begeht: Der Netflix-Film baut unendlich viel Spannung auf, ohne diese am Ende befriedigend aufzulösen!

Der Untergang der Bildschirm-Gesellschaft

leave the world behind netflix film bild 1
Netflix-Film mit Star-Besetzung: Julia Roberts, Mahershala Ali, Ethan Hawke und Myha’la Herrold in Leave the World Behind.

Die Werbefachfrau Amanda Sandford (Julia Roberts) hat zusammen mit ihrem Ehemann Clay (Ethan Hawke) und ihren Kindern Archie (Charlie Evans) und Rose (Farrah Mackenzie) ein Ferienhaus in New Jersey gebucht, um dem stressigen New Yorker Alltagstrott zu entfliehen. Das Haus befindet sich im bezeichnend benannten Point Comfort, einem kleinen Kaff am Rande der Stadt. Doch die geplante Ruhe wird schnell gestört, als ein Öltanker am Strand aufläuft und Radio, Fernsehen und Internet ausfallen. 

Am Abend stehen Vermieter George (Mahershala Ali) und seine Tochter Ruth (Myha’la Herrold) vor der Tür, die nach einem Konzertbesuch in ihrem Haus übernachten wollen. Obwohl Amanda misstrauisch ist, arrangieren sich die beiden Familien miteinander. Am nächsten Morgen sind die Leitungen immer noch tot. Nach weiteren merkwürdigen Vorkommnissen verdichten sich die Hinweise, dass ein gezielter Cyberangriff dahintersteckt mit dem Ziel, die USA komplett lahmzulegen.

Die grundlegenden Themen des neuen Films von Regisseur Sam Esmail kennt man schon aus anderen Werken des Filmemachers. Er ist nämlich unter anderem für die Erfolgs-Serie Mr. Robot bekannt, die nicht nur unserer Bildschirm-Gesellschaft einen Spiegel vorhält, sondern auch auf die Gefahren der Technologie-Abhängigkeit hinweist. Das wird mit Leave the World jetzt weitergedacht und auf die Spitze getrieben.

Der neue Netflix-Film zeigt, was mit Menschen in einer Welt passiert, in der der Zugang zu Informationen und Kommunikation von digitalen Geräten abhängt. Das fängt schon mit banalen Dingen wie einem Cliffhanger in der Lieblingsserie der Tochter Ruth an. Nachdem sie die Serie Friends bis zur finalen Folge gebingewatcht hat, soll ausgerechnet vor der letzten Episode die Welt untergehen? Ihr ganzes Dasein hängt doch von der Auflösung des Cliffhangers ab.

Doch mit einem Ausfall des Handy- und Satelliten-Netzes wird es noch drastischer: Weder liefert der Fernseher zuverlässige Informationen über die Situation, in der sich die Welt befindet. Noch können Push-Benachrichtigungen auf dem Handy unsere Protagonisten davor warnen, was gerade passiert. Und das, obwohl die angeblich abgeschiedene Luxus-Villa der Familie nur wenige Kilometer außerhalb der Stadt liegt und die Skyline dieser von bestimmten Punkten aus sogar zu sehen ist.

Anzeige

Von Amok-Teslas und einem Lobgesang auf physische Medien

Noch drastischer formuliert sich die satirische Aufarbeitung der Technologie-Abhängigkeit unserer Gesellschaft durch selbstfahrende Teslas, die plötzlich Amok fahren und ineinander krachen. Der einzige Ausweg für unsere Protagonisten ist eine ziemlich wilde Geisterfahrt, aus der die Familie nur glimpflich davon kommt. 

Ein abschließender Kommentar auf diese von der Digitalität und der Entfremdung des Echten gepräten Gesellschaft gelingt dem Film dann sogar tatsächlich auf sehr elegante, wenn auch unerwartete Weise: Denn die Sehnsucht der Tochter nach der letzten Folge von Friends wird weder optimistisch mit der Wiederherstellung des Status Quo noch pessimistisch durch die Auslöschung allen Lebens auf der Erde erreicht.

Nein, ihre Befriedung zeigt der Film durch einen Lobgesang auf physische Medien. Denn sie findet in einem fremden und scheinbar verlassenen Haus eine riesige DVD- und Blu-ray-Sammlung. Und, oh Wunder, auch die letzte Staffel von Friends ist unter den vielen Discs! 

Das kommt auf zweifache Art und Weise unerwartet: Nicht nur überrascht die Tatsache, dass in einem Netflix-Film die Huldigung und Wertschätzung von physischen Medien in Form von DVDs und Blu-Rays zelebriert wird. Auch die Darstellung geschieht auf interessante Art und Weise: Der Fundort der Friends-DVD wird als verlassener und fremder Ort dargestellt. 

Ebenso wie unsere digitalisierte Gesellschaft, in der man belächelt wird, wenn man über seine Film- und Seriensammlung schwärmt. Wer braucht denn heutzutage noch DVDs? Es gibt doch alles auf Abruf und immer verfügbar. Bis das eben nicht mehr der Fall ist. Dann wird der ehemals verlassene und für viele entfremdete Ort der DVD-Sammlung plötzlich wieder interessant. 

Anzeige

Wie Sex ohne Höhepunkt

leave the world behind netflix film bild 2
Merkwürdige Ereignisse geben in Leave the World Behind Rätsel auf.

Zugegeben, das mag jetzt etwas zugespitzt formuliert und vulgär ausgedrückt sein, doch die Überschrift für dieses Kapitel beschreibt genau das Gefühl, das ich nach dem Abspann des Films hatte: Leave the World Behind ist eigentlich ein 140-minütiger Spannungsaufbau ohne befriedigenden Höhepunkt. Über die gesamte Laufzeit wird sowohl mit der Kameraarbeit, als auch mit dem Soundtrack und natürlich viele einzelne Szenen Spannung aufgebaut, ein Mysterium kreiert und die Frage nach dem wie, was und warum im Zuschauer immer lauter.

Nur, um dann im Kalten stehengelassen zu werden. Der Film ist tatsächlich ein einziger Spannungsbogen ohne Sehne. Es wird zwar ein apokalyptisches Szenario aufgebaut und mit entsprechenden Szenen unterfüttert. Die Versprechen des aufgebauten Szenarios kann der Film aber nie befriedigend einlösen.


Auch interessant:


Der Streifen wird immer wieder mit bedeutungsschwangeren Szenen und Vorkommnissen in die Länge gezogen, die nicht nur im Zuschauer, sondern auch in den Protagonisten Fragen aufwerfen und auf einen größeren Zusammenhang hindeuten. Warum etwa werden Amanda und Ruth im Wald mit einer gruseligen Wildtier-Erfahrung konfrontiert? Was hat es mit den merkwürdigen, viel zu lauten Geräuschen auf sich?

Und warum stürzen scheinbar an einer vordefinierten Strandstelle riesige Passagierflugzeuge vom Himmel? All diese Fragen wirft der Film auf und schürt damit eine Erwartungshaltung im Zuschauer, dass diese Mysterien irgendwann aufgelöst werden oder zumindest eine tragende Rolle im Verlauf des Films spielen. Doch beides ist nicht der Fall. 

Anzeige

Bildgewalt kann die Rettung sein

Der Aufbau der Spannung funktioniert also, ihre Auflösung ist jedoch unbefriedigend bzw. kaum existent. Auf erzählerischer Ebene ist der Film nur bedingt greifbar. Er vermittelt über seine Lauflänge von 140 Minuten eine unglaubliche Atmosphäre. Diese wird aber nur zu einem kleinen Teil durch das Drehbuch hervorgerufen.

Vielmehr erzeugt die Kameraarbeit von Tod Campbell und der eindringliche Soundtrack mit seinen spitzen Tönen und hervorragendem Timing die Ästhetik und Atmosphäre des Netflix-Originals. Durch zahlreiche Draufsichten, Kamerafahrten in die Vertikale und andere originelle visuelle Ideen erschafft die Kamera eine eigene Identität für den Film, wodurch die zahlreichen Schwächen, die Leave the World Behind ohne Frage hat, zum Teil kaschiert werden können.

Anzeige

Schauspieler mit echtem Charakter-Durchblick

Neben der Bildgewalt und dem fantastischen Soundtrack spielen aber auch die schauspielerischen Leistungen der Darsteller eine große Rolle für den letztendlich doch positiven Eindruck vom Film. Eigentlich leistet das ganze Ensemble rund um die großen Stars wie Julia Roberts, Mahershala Ali, Ethan Hawke, aber auch frische Namen wie Myha’la Herrold (die mich letztes Jahr schon im Horror-Film Bodies, Bodies, Bodies überzeugen konnte), Farrah Mackenzie und Charlie Evans sehr gute Arbeit.

Julia Roberts wird uns Zuschauern zunächst als fiese und feindselige Frau präsentiert, bis sie durch ihr nuanciertes Schauspiel auch eine verletzliche und selbstreflektierende Seite durchblicken lässt. Mahershala Ali spielt den vornehmen und immer höflichen Gentleman, der aber durch eben diese Höflichkeit auch verdächtig wirkt. Und auch die jüngeren Schauspieler gehen in hochkomplexe Charaktere auf. 

Rose etwa wird als Nebenfigur eingeführt, die nur als Gegenstück zu ihrem großen Bruder Clay existiert. Doch auch sie lässt später eine gewisse Tiefe durchblicken, und die Fragen, die sie aufwirft, können selbst viele Erwachsene nicht beantworten. Insgesamt gelingt dem gesamten Schauspiel-Ensemble eine vielschichtige Performance und ein Verständnis des jeweiligen Charakters, das sich perfekt mit der im Drehbuch angelegten Gesellschaftssatire ergänzt.

Trotz aller positiven Worte darf aber nicht vergessen werden, dass gerade das Drehbuch dem Film mehr schadet als hilft. Der dadurch provozierte Spannungsbogen wird nie befriedigend aufgelöst und der Film weist zwar eine tolle Atmosphäre auf, hätte aber auch gut und gerne 30 Minuten kürzer sein können, ohne in dem, was er erzählen möchte, beeinträchtigt zu werden.


Fazit: Leave the World Behind ist ein eindringlicher Endzeit-Thriller, der vor allem von seiner grandiosen Atmosphäre, die Kameraarbeit, den Soundtrack und die immer weiter aufgebaute Spannung lebt. Diese Spannung kann er aber nie befriedigend auflösen, wodurch gerade im Drehbuch große Lücken offenbart werden. Ausgeglichen werden kann das durch das famose Schauspiel des gesamten Ensembles und die erdrückende Gesellschaftskritik, die gerade durch den Lobgesang auf physische Medien in einem Netflix-Film eine unerwartete Wendung nimmt.

Letterboxd ->

Bewertung:

3


Leave the World Behind ist ab jetzt auf Netflix abrufbar.

© Copyright aller Bilder bei Netflix.

Jetzt teilen


*Dieser Artikel kann Affiliate-Links zu unseren Partnern enthalten.

Lukas Egner

Ich bin der Gründer von filmfreitag und schaue leidenschaftlich gerne Filme und Serien aus jedem Genre. Ich bin 21 Jahre alt, studiere momentan Politik- und Medienwissenschaften und schreibe als freier Autor für verschiedene Film- und Videospielmagazine.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
0 Kommentare
Inline Feedbacks
View all comments